Morgen geht es für mich zurück
nach Deutschland, deswegen hier mein Fazit dieses Auslandsjahres in dieser
tollen Form.
1.
So ein Auslandsjahr wird nicht von alleine gut;
da muss man auch selber was für tun.
Ich gebe zu,
dass ich auch zu diesen Menschen gehört habe, die Auslandsaufenthalte als
Allheilmittel betrachten. Und dass ich ziemlich enttäuscht war, als ich nach
fünf Monaten noch nicht wie ein Muttersprachler gesprochen habe, noch nicht 50
enge Freunde hatte, noch kein komplett anderer Mensch geworden bin und ich
nicht jeden Tag ein neues Abenteuer erlebt habe. Abgesehen davon, dass realistische
Zielsetzung eh nicht so meins ist, musste ich erkennen, von nichts kommt
nichts, und das gilt auch im Ausland.
In dem geheimnisvollen Wald in der Bretagne |
Noch mehr Bretagne |
Skifahren mit Saskia in den Alpen |
Einer der Wochenendausflüge mit Pia: Gent |
2.
Es gibt leckeres Bier: in Lille.
So lecker, dass
ich mich sogar dafür interessiere, warum es hier so viel besser schmeckt, und
mir deshalb zurzeit verschiedene Themen der Bierbrauerei anlese.
3.
Unterrichten kann Spaß machen.
Natürlich unter
den richtigen Voraussetzungen. Eine kleine Gruppe lieber, witziger,
intelligenter, interessierter und in manchen Fällen sogar sehr motivierter
Studenten in ihrer freiwillig gewählten dritten Fremdsprache zu unterrichten
und für die Unterrichtsvorbereitung bezahlt zu werden und genug Zeit zu haben,
ist eben noch mal etwas ganz anderes als einer riesigen Klasse
unkonzentrierter, pubertärer Teenager den Inhalt des Rahmenplans ihrer ersten
Fremdsprache aufzuzwängen. Letztere Situation hat mich in meiner Schulzeit sehr
vom Lehrerberuf abgeschreckt und mich zögern lassen, diese Aufgabe hier
anzunehmen. Unsere Art des Unterrichtens hat mir aber überraschenderweise sehr
viel Spaß gemacht. Es war für mich der Arbeitsbereich, bei dem ich am meisten
gelernt habe: übers Unterrichten, aber auch viel über meine eigene Sprache.
Warum sagen wir das im Deutschen so? Warum verstehen Franzosen das eine
Phänomen sofort und das andere gar nicht? Woran liegen die immer gleichen
Fehler? Was sagen die grammatikalischen Unterschiede unserer Sprachen über
unsere Mentalitäten? Wie viel Stoff kann ich den Schülern beibringen, damit sie
möglichst viel lernen, ohne dass sie alles wieder vergessen oder an der Sprache
verzweifeln? Es war natürlich umso interessanter, dass wir einen studierten
Linguisten und ehemaligen Dolmetscher als unseren Tutor hatten und uns im
gemeinsamen Büro regelmäßig in endlosen Diskussionen wiedergefunden haben,
insbesondere über deutsche und französische Sprache und Mentalität, aber auch
beispielsweise über Türkisch oder Chinesisch. Und wie glücklich
man wird, wenn der ein oder andere Schüler das Interesse teilt und ganz
verzückt verkündet, wie sinnvoll doch Dativ und Akkusativ sind, dass man im
Französischen manchmal einen Unterschied gar nicht ausdrücken kann und wie das
wieder für die klischeehafte Genauigkeit der Deutschen spricht.
Ehemalige Textilfabrik und Schwimmbad und jetziges Museum "La Piscine" |
Und meine Euphorie in einem anderen Museum |
4. Unter
Menschen zu sein
Schlecht ausgedrückt, aber interessant. Ich
habe mich öfter mit Pia darüber unterhalten. Pia war in Deutschland dank
zahlreicher Freizeitaktivitäten und eines engen Familienbands immer unter
Leuten; ich dagegen habe schon immer auch viel Zeit für mich gebraucht und sie
mir genommen. Hier in Frankreich war ich gefühlt 24/7 in Gesellschaft. Auf der
Arbeit was insbesondere Pia jede Minute der sieben Stunden an meiner Seite, aber
auch sonst waren wir mit der Cafeteria und dem Unterricht oft mit vielen
Menschen in Kontakt. Sport habe ich erst am Ende manchmal allein gemacht, wie
ich es gerne mag. Den Rest des Jahres war ich beim Hockey, Rock und Hiphop in
einer Gruppe, bei den Fitnesskursen unter Leuten und sowieso oft mit Pia
überall, am Ende viel mit ihr joggen. Sobald ich im Wohnheim war, waren dort
logischerweise wieder viele Menschen, auf den vielen Partys im und ums Wohnheim
sowieso. Am ICAM kennen uns alle, und auch außerhalb treffen wir oft auf
Leute, die wir kennen, oder die uns kennen. Ich habe dann meine Abende immer
bei Charles verbracht, wir waren entweder zu zweit oder mit seinem Bruder bei
ihm, oft abends noch mit Freunden aus und auch öfter bei seinen Eltern. Pia hat
mich ab da abends nicht mehr so oft gesehen, dann öfter was mit Freunden
gemacht, aber musste auch lernen, mal Abende allein zu verbringen. Auf Partys
fühlte sie sich gleich wohl, während ich nach einer Stunde erschöpft für ein
bisschen Ruhe zu haben wäre. Auch nicht wenig Konfliktpotenzial, aber dadurch
haben wir beide gelernt, ein bisschen mehr unter Menschen bzw. allein sein zu
können, aber auch zu verstehen, dass andere Menschen ganz andere Bedürfnisse
haben, darauf Rücksicht zu nehmen und Kompromisse einzugehen.
Mit Pia auf der Gala (schon etwas fertig haha) |
Auf einer der internationalen Partys |
5.
Es ist sehr einfach, Bekanntschaften zu
schließen, und sehr schwierig, richtige Freundschaften zu entwickeln.
Uns kennen alle,
wir kennen viele. Kontaktscheu ist hier niemand, und so findet man oft in den
immergleichen Smalltalksituationen wieder: Wie heißt du? Warum bist du hier?
Woher kommst du? Warst du schon mal auf dem Oktoberfest? Ist das Bier hier oder
in Deutschland besser? Wie lange lernst du schon Französisch? Was willst du
nach dem Jahr machen? Hier kann man sich nicht aufhalten ohne Kontakte zu
knüpfen.
Mit vielen
unterhält man sich auch öfter, täglich im Cafet oder auf Partys. Wenn mich
jemand fragen würde, wen ich hier so richtig gerne mag, könnte ich viele Namen
nennen und lang war auch die Liste an Menschen, die wir für unsere Partys
einladen wollten und/oder haben. Und auch wir werden regelmäßig auch zu
privaten Partys eingeladen.
Trotzdem kann
ich die Zahl derer, mit denen ich mal außerhalb vom icam und von Partys etwas
unternommen habe, an zwei Händen abzählen. Die zweite Hand zählt dabei „nur“
Ausländer wie uns.
Niemand hat viel
Zeit im Leben, die Studenten nicht und wir auch nicht. Zum Wochenende sind sie
zudem zuhause bei ihren Eltern. Wir haben keinen Kurs zusammen, gehören keinem
Jahrgang an. Am Anfang fiel es uns noch schwer, die vielen derben Witze zu
verstehen oder einen ganzen Abend in einer lauten Bar der Unterhaltung zu
folgen, und auch jetzt ist das noch nicht das Einfachste. Nach einem Jahr sind
wir eh nicht mehr da. Und uns kennt ja jeder, irgendwer anders wird schon daran
gedacht haben, uns Bescheid zu sagen. Freunde - ja haben wir, Bekannte -
gefühlt tausende. Aber bei engen Freunden, denen ich mich anvertrauen könnte
und mit denen ich mich regelmäßig privat treffe und auch schreibe, zählt dann
wirklich nur noch eine Hand, und das auch eher schwerfällig. Aber auch da muss
wieder auf die genannte Eigeninitiative verwiesen werden. Bestimmt würde die
Hand schneller und mehr Freunde zählen, wenn es mir wichtiger gewesen wäre, und
ich mehr darein investiert hätte.
Mit dieser coolen Truppe haben wir uns um alles Internationale gekümmert. |
6.
Wie sehr die gleiche Nationalität oder die
gleiche Muttersprache verbindet, merkt man erst im Ausland.
Im ersten
Semester waren so einige ausländische Studenten am ICAM. Mit einigen von ihnen,
insbesondere einem Tschechen, einem Kongolesen, einer Kamerunerin und einer
Deutschen haben wir uns richtig gut verstanden. Als wir uns kennengelernt
haben, haben wir uns gleich über die bisous der Franzosen amüsiert und wir
waren schnell ein gutes Team. Besonders mit dem Tschechen und der Deutschen
konnten wir uns lange unterhalten, denn Französisch war für uns alle eine
Fremdsprache, wir hatten die gleichen Probleme und wir kannten die gleichen
Nationalgerichte, die es hier nicht gibt.
Im Januar war
ich im Sprachencafé der staatlichen Uni in Lille und bin dort auf eine weitere
Deutsche getroffen, wir sind uns gleich in die Arme gefallen, uns
unser Leben erzählt und uns seitdem regelmäßig getroffen. Im März waren Pia
und ich beim Sport und plötzlich spricht uns ein blondes Mädchen auf meinen
Abi-Pulli an „Sag mal, seid ihr auch deutsch?!“. Von dem Moment an waren wir
befreundet.
Und was war
unser erster Gedanke als Pia und ich mit einer österreichischen Freundin
ausgegangen sind? - Laden wir doch noch Luise und Veronika ein.
An unsere französischen
Freunde haben wir ehrlich gesagt in dem Moment gar nicht gedacht.
Eigentlich ist
das auch ganz normal. Man erkennt selten auf den ersten Blick, ob man den
Charakter des Anderen mögen wird, aber man erkennt sofort die offensichtlichen
Gemeinsamkeiten. Bunte Haare, die gleiche Tasche oder eben die gleiche
Muttersprache. Und es tut wirklich gut, jemanden zu haben, der einen in all den
Punkten versteht, in denen einen sonst niemand versteht. Diese Erfahrung
behalte ich auf jeden Fall im Hinterkopf, bevor ich wieder darüber urteile, wenn
sich Menschen mit Migrationshintergrund schlecht in unsere Gesellschaft
integrieren und so viel unter sich bleiben.
Mit deutschsprachigen Seminarfreunden in Brüssel |
Meine überbelichtete Wenigkeit und meine Lieblingsausländer |
7.
Was es bedeutet, Ausländer zu sein
Ohne Kommentar,
aber mit kleinen Beispielen. Ganz im Wissen darüber, dass es auch noch mal
etwas ganz Anderes ist, von einem anderen Kontinent zu kommen und die
Sprache nicht zu sprechen und sich auch optisch abzuheben.
Gestern gehen
Pia und ich in die Bank. Pia erklärt mit elegant gewählten Ausdrücken, was sie
wohin überweisen will und warum das nur hier geht. Die gelangweilte Frau am
Schalter hört einen Akzent heraus und fängt sicherheitshalber wieder von vorn
an. „Ich brauche den Per-so-nal-aus-weis.“ artikuliert sie überdeutlich und
langsam, damit wir auch ja dieses Wort verstehen, das sich schon seit sechs
Jahren in meinem Wortschatz befindet. „Das geht auch im In-ter-net“ Wir sind
das gewohnt, Pia erklärt entschlossen, warum das dort nicht geht und dass sie
sich bewusst entschieden hat, das hier zu machen. Im Nachhinein wäre sie gerne
wortlos gegangen.
Am Wochenende
wollten wir spät abends noch ein Eis kaufen. Die Eisdiele unseres Vertrauens
war noch offen, viele Sorten aber leider aus. Wir sind dran, fragen höflich ob
sie noch Eis verkaufen, was denn noch da ist, woraus die Sorte besteht.
Eismensch versteht alles, antwortet auf Englisch. Wir geben auf Französisch unsere Bestellung
an, Eismensch versucht es noch einmal auf Englisch. Wir zahlen und bedanken
uns, jetzt hat auch er verstanden, dass er auch einfach auf seiner Muttersprache
mit uns reden kann.
Ich gehe mit
Charles in eine Bar, wir treffen ein paar Freunde. Nachdem ich als „Die
Deutsche“ vorgestellt wurde, ein Mädchen mit mir in Zeitlupe geredet hat, ich
mir zehn Naziwitze angehört habe, alle vor Erstaunen umgekippt sind, als ich
gesagt habe, dass ich das deutsche Bier nicht mag und noch nie auf dem
Oktoberfest war, und ich mir sogar zwei Videos von deutschen Jodlern angucken
musste, überlege ich, mich im Bier zu ertränken, um mir nie wieder anhören zu
müssen, welchen einsamen sinnlosen Satz mein Gesprächspartner nach elf Jahren
Deutschunterricht sagen kann. Dabei denke ich frustriert darüber nach, dass
Luise nach dreieinhalb Jahren in Frankreich natürlich immer noch Akzent hat und
kleine Fehler macht und Carlos, Argentinier mit sehr gutem Französisch und
französischem Masterabschluss, von seiner Praktikumssuche erzählt, dass sie
alle lieber einen Franzosen einstellen wollen.
Ich serviere in
der Cafeteria, erzähle den zwei Kunden, was es noch für Sandwiches gibt, was
wir nicht mehr haben und warum, dass es ihr Wunschgetränk nur noch in
Zimmertemperatur im Lager gibt, und biete ihnen ein anderes an. Den Satz „Okay,
ich nehme zwei“ verstehe ich akustisch nicht, frage noch einmal nach. „Zwei….
TWO“ kommt vom Kunden zurück und er zeigt die Zahl mit der Hand.
Ich gehe in ein
Geschäft, stelle eine Frage. Antwort: „Oh, du bist aber nicht von hier, woher
kommst du denn?“
Mit Pia am Meer |
Internationaler Abend mit auch Leuten von den ICAM Filialen Nantes, Toulouse und Paris |
8.
Welche Klischees über le Noooooooord wirklich
stimmen.
Ja, es gibt
wirklich Leute, die Ch’ti sprechen, aber natürlich mehr auf dem Land in der
Familie. Es wurde uns natürlich auch vorgeführt und uns einige Vokabeln
beigebracht. Nein, es regnet hier nicht immer, eigentlich wirklich selten. Und
die Nähe zum Meer sorgt auch für milde Temperaturen im Winter. Ja, es wird
wirklich viel Bier getrunken. Ja, Gastfreundschaft ist scheinbar echt nicht
unwichtig. (Da erinnere ich mich an ein Erlebnis auf dem Land, als die
Großeltern eines Freundes etwa acht Freunde ihres Enkels an einem Sonntagmittag
zu sich ins Haus luden und uns nicht eher gehen ließen, bis jeder von uns
mindestens zwei Gläser getrunken und all ihre Cracker gegessen hatten.)
La Grand' Place in Lille |
Mit Charles am Meer |
9.
In Frankreich zu studieren ist vielleicht doch
eine Überlegung Wert.
Mir persönlich
sogar nicht nur eine Überlegung, sondern sogar die Umsetzung. Ich mag das Land,
ich mag die Leute, ich mag sogar das Studiensystem. Ich mag die Sprache, ich
mag die Mentalität und die Atmosphäre und ja, ich mag auch Charles. Und obwohl ich
diese Ausländermomente hasse, muss ich auch sagen, dass ich mich in diesem Land
auch zuhause fühle. Es ist ja auch nicht so, als würde ich in Deutschland nicht
dauernd gefragt werden, wo ich denn herkomme, für meine Unpünktlichkeit und die
Art, meinen Käse zu essen, als Franzose abgestempelt werden, und dauernd meinen
Nachnamen erklären müssen, inklusive Buchstabierung und Familiengeschichte. Und
obwohl ich vermutlich noch viele im-Bier-ertränken-Momente erleben werde und Deutschland
vielleicht immer oder noch eine Weile meine Heimat Nummer eins bleiben wird und
Deutsch die Sprache, in der ich mich am besten ausdrücken kann, ist es
angesichts meiner doppelten Staatsbürgerschaft und meines doch immer engen
Bezugs zu Frankreich vielleicht mittlerweile übertrieben, von Ausland zu
sprechen.
Das neue Sciences Po Gebäude - meine zukünftige Uni |